Leseprobe - Die Türen dazwischen

Kapitel 1

 

Mittagspause.

Kurz nach dem Ende der Sommerferien.

Unser allerletztes Schuljahr.

  Wir saßen zu zweit auf einer steinernen Mauer, die das Schulgelände von dem angrenzenden Stadtpark trennte, und sahen Luka und Anatoly – mal mehr, mal weniger aufmerksam – beim Skaten zu. So verbrachten wir eigentlich jede Pause, wenn es einigermaßen warm war und nicht regnete. Und dieser Freitag war ein perfekter Sommertag. Der nächtliche Regen hatte die Hitze des Vortages weggespült und geblieben war eine angenehme Wärme und ein beinahe wolkenloser, strahlend blauer Himmel. Die Luft war voller Leben und von überall her strömten Geräusche zu uns herüber. Das Gekreische einiger Kinder, die vermutlich Fangen spielten, das Rollen der Skateboards auf dem Asphalt, das Zirpen der Grillen und das entfernte Rauschen vorbeifahrender Autos.

     »Schon komisch«, sagte ich zu meiner besten Freundin Sina, die neben mir saß. »In einem Jahr haben wir unseren Abschluss und danach wird alles ganz anders sein.«

     Sie setzte sich ein Stück auf und ließ die Beine von der Mauer baumeln. »Zum Glück. Ich bin so froh, wenn die Schulzeit endlich vorbei ist. Allein dieser Tag dauert gefühlt noch eine Ewigkeit.«

     »Ich weiß nicht. Manchmal würde ich gern die Zeit anhalten.«

     »Auf keinen Fall! Nach dem Schulabschluss haben wir doch viel mehr Freiheiten.«

     »Wahrscheinlich hast du recht«, sagte ich nachdenklich und blickte in Richtung Stadtpark.

     Luka sprang gerade mit seinem Skateboard in die Luft und versuchte auf dem Geländer einer Treppe zu sliden. Er rutschte ab, konnte sich aber noch fangen, landete wankend auf den Füßen und rannte sogleich seinem Board hinterher, das polternd davonrollte. Früher hätte ich mich in diesem Moment sicherlich erschreckt, inzwischen hatte ich mich aber an diese Beinahe-Unfälle der beiden gewöhnt und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf das Buch, in dem ich eben noch gelesen hatte.

     »Was liest du da eigentlich?«, fragte Sina, als ich erst ein paar Sätze weit gekommen war, und warf einen kritischen Blick auf das Cover, auf dem eine Frau hingebungsvoll in den Armen eines gutaussehenden, offensichtlich muskulösen Mannes lag. Im Hintergrund war undeutlich ein idyllischer Rosengarten zu erkennen. »Emma, was ist das denn? So was liest du doch sonst nicht.« Sina verzog angewidert das Gesicht.

     »Das Buch lag zu Hause rum und ich dachte, ich probier’s mal aus.« Ich grinste ertappt.

     »Worum geht es denn? Hat sie sich in den Gärtner verliebt?«

     »Nein«, lachte ich. »Aber die Geschichte ist tatsächlich relativ vorhersehbar. Ich wette, am Ende stellt sich heraus, dass der unauffällige, aber gutaussehende Nachbar, der ihr im Treppenhaus immer freundlich zulächelt, die Liebe ihres Lebens ist.«

     Sina runzelte die Stirn. »Also, bei mir nebenan wohnen nur die alte Flanders mit ihren drei Katzen und dieser pickelige Typ, der sich jeden zweiten Tag was beim Chinesen bestellt.« Sie zog ihre Tasche zu sich heran und begann darin herumzukramen. »Schlechte Aussichten für mich.«

     Ich lachte über Sinas gespielt enttäuschten Tonfall. Luka und Anatoly hatten mittlerweile genug vom Skateboarden und gesellten sich zu uns.

     Sina grinste mich vielsagend an und nahm dann einen großen Bissen von dem Apfel, den sie soeben hervorgeholt hatte.

     Die Jungs machten es sich ebenfalls auf der Mauer bequem. Anatoly, von uns meistens einfach nur Ana genannt, quetschte sich zwischen Sina und mich, und Luka nahm neben mir Platz. Ich ahnte, dass ich jetzt sowieso nicht mehr zum Lesen kommen würde, knickte als Markierung die obere Ecke der Seite um, auf der ich zuletzt gewesen war, und schlug das Buch zu. Mein Vater hasste es, wenn ich das tat. Vielleicht tat ich es gerade deshalb so gern. Es machte mir Spaß, ihn damit zu necken. Aber abgesehen davon mussten Bücher meiner Meinung nach nicht behandelt werden wie rohe Eier. Sie durften ruhig gelesen aussehen, denn je öfter sie gelesen wurden, desto mehr wurden sie gewürdigt.

     Ana rutschte auf seinem Platz hin und her und lehnte das Skateboard an die Mauer. »Sina sucht also nach der Liebe ihres Lebens?«, fragte er wie beiläufig, aber mit neckischem Unterton und blickte grinsend von mir zu ihr.

     Sie rollte mit den Augen. »Du hast keine Ahnung, worum es geht, musst dich aber wieder einmischen.«

     »Ich will doch nur an eurem Gespräch teilhaben.«

     »Nein, du willst mir offensichtlich auf die Nerven gehen.« Sina hatte den Apfel bereits aufgegessen und warf das übriggebliebene Kerngehäuse in ein nahegelegenes Gebüsch.  »Lass uns schon mal reingehen«, sagte sie zu mir, ohne Anatoly weiter Beachtung zu schenken. »Ich muss ja gleich diesen Vortrag halten.«

     Sie stand auf und klopfte sich den Staub von der schwarzen, löchrigen Jeans. Sina hatte ein vollkommen anderes Erscheinungsbild als ich und ich betrachtete sie, trotz all der Jahre, die wir uns inzwischen kannten, immer noch voller Bewunderung. Ihr langes Haar, das normalerweise wie meines blond gewesen wäre, hatte sie zu diesem Zeitpunkt in einem hellen, glänzenden Türkiston gefärbt. Sie trug gerne dicken, schwarzen Eyeliner und roten Lippenstift. Auf ihrem T-Shirt war das Logo einer Band zu sehen, die ich nicht kannte, und ihr rechter Oberarm wurde nun schon seit einem halben Jahr von einem großen Tattoo verziert. Das Tattoo zeigte einen Traumfänger, der mit vielen Federn und Blumen geschmückt war.

     Mit meiner Latzhose aus hellem Jeansstoff und einem weißen T-Shirt darunter, war ich bei Weitem nicht so auffällig gekleidet wie sie. Aber ich wollte auch gar nicht unbedingt auffallen. Und ich mochte Latzhosen, wegen der vielen Taschen, in denen man überall etwas verstauen konnte.

     »Bis später, Luka«, sagte sie betont nur an Luka gerichtet und warf Anatoly einen feindseligen Blick zu. Ich verabschiedete mich ebenfalls und wir liefen in Richtung Schulgebäude.

 

Ich saß auf meinem Platz im Klassenraum, hatte den Kopf in die Hände gestützt und beobachtete das Geschehen. Wir hatten Philosophie und Sina hielt einen Vortrag über Menschenrechte. Normalerweise gab sie sich mit Hausaufgaben oder Referaten nie besonders viel Mühe, aber dieses Thema schien sie zu begeistern. Sie hatte schon vor Beginn der Stunde damit angefangen, ihre Präsentation vorzubereiten, den Beamer aufgestellt und ihre Unterlagen bereitgelegt. Hatte, als unsere Lehrerin hereingekommen war, kurz mit ihr gesprochen und danach sogar Handouts ausgeteilt, obwohl diese nicht gefordert gewesen waren.

     Inzwischen war Sina schon fast am Ende ihres Vortrages angekommen. Sie hatte über die Gleichheit der Menschen gesprochen und darüber, wie wichtig Redefreiheit war. Gerade erzählte sie davon, dass auch heutzutage Frauen noch in einigen Ländern von den Männern unterdrückt wurden. Sie war voll dabei. Dieses Thema schien sie wirklich zu interessieren.

     Ich dachte darüber nach, wie gut es mir eigentlich ging und wie privilegiert ich war. Dass ich alle Freiheiten hatte, die ich mir wünschen konnte. Ich hatte auch alle Möglichkeiten zu tun, was ich wollte. Und statt diese Möglichkeiten zu nutzen und mir ein sinnvolles Ziel zu setzen, schlug ich mich mit der Frage herum, was es überhaupt war, das ich wollte. Dies war mein allerletztes Schuljahr und ich musste mir wohl oder übel Gedanken darüber machen, was danach kommen sollte. Bisher hatte ich dieses Thema möglichst verdrängt und mich lieber in meinen Büchern verkrochen. Denn diese Frage ging über die einfache Wahl eines Berufs hinaus. Wie wollte ich mein Leben denn gestalten? Wie sollte ich jemals eine endgültige Antwort auf so eine entscheidende Frage finden?

     Mein Gedankengang wurde unterbrochen, denn Leif, der Schüler, der im Laufe unserer Schulzeit wohl am häufigsten des Unterrichts verwiesen worden war, störte Sinas Vortrag und rief dazwischen:

     »Ach, deshalb können die meisten Frauen auch nicht boxen.« Er grinste und blickte einen Moment zu seinen Freunden hinüber. »Na, weil sie keine Rechte haben.«

     Die meisten schienen einen Augenblick zu brauchen, um den Witz zu verstehen, doch auch als er zum Unterstreichen einmal mit der rechten Faust in die Luft boxte, lachte niemand. Offensichtlich war das selbst seinen Freunden zu blöd.

     Ich sah, wie Sinas Augen sich zu wütenden Schlitzen verengten. Normalerweise hatte sie nichts gegen Witze auf Kosten anderer, aber grade verstand sie wohl keinen Spaß. Als es kurz darauf etwas ruhiger geworden war, rief sie zurück: »Ein noch dümmerer Witz ist dir wohl nicht eingefallen? Außerdem bist du ein Arschloch.«

     Leif wollte gerade antworten, aber die Lehrerin stand auf, um das zu unterbinden. »Das reicht jetzt aber«, sagte sie an die Klasse gewandt und drehte sich zu Sina um.

     »Keine Beleidigungen, bitte. Du kannst wieder Platz nehmen. Hat noch jemand Fragen?«

     Sina setzte sich wieder neben mich. Viele grinsten jetzt doch oder flüsterten sich weitere Witze zu. Zwei Schülerinnen meldeten sich.

     Nelli, die ebenfalls neben mir saß, tippte mir auf die Schulter. Ich kannte sie inzwischen relativ gut, weil wir durch Zufall sehr häufig dieselben Kurse besuchten und deshalb schon öfter zusammengearbeitet hatten. Wirklich befreundet waren wir aber nicht. Sie beugte sich zu mir.

     »Kannst du mir am Wochenende vielleicht bei den Mathehausaufgaben helfen?«, flüsterte sie.

     Ich warf einen Blick zur Lehrerin hinüber, aber die war gerade damit beschäftigt, auf eine Frage zu antworten.   »Klar, wann denn?«, flüsterte ich zurück.

     »Ist Sonntag okay?«

     »Ja, machen wir.«

     »Super, danke dir.« Nelli lächelte mir zu und richtete ihre Aufmerksamkeit dann wieder auf den Unterricht.

     Der Rest der Stunde verlief recht ruhig. Sina trug nicht mehr viel zum Unterricht bei, nutzte aber jede Gelegenheit, um alles, was Leif sagte oder tat, entweder für alle oder nur für mich hörbar, ordentlich runterzuputzen.

     Danach hatte ich gemeinsam mit Nelli Deutschunterricht. Sina besuchte einen anderen Kurs und wir trennten uns auf dem Gang. Sie war immer noch mies gelaunt, aber so, wie ich sie kannte, legte sich das bald wieder.

 

Nach dem Unterricht verließ ich mit Nelli den Klassenraum. Sie klagte über die Menge an Hausaufgaben, die wir erledigen mussten, aber ich hörte ihr nur mit einem halben Ohr zu.

     Auf dem Gang kam uns Mila mit ihren zwei besten Freundinnen entgegen. Mila war auch in unserer Stufe, aber ich sah sie nur im Sportunterricht, weil wir sonst unterschiedliche Kurse besuchten. Ich ging ihr generell lieber aus dem Weg. Mir war es etwas suspekt, dass sie jeden zunächst von oben bis unten musterte, ehe sie mit ihm sprach. Als sie Nelli erblickte, kam Mila strahlend auf diese zu und gab ihr ein Küsschen auf jede Wange.

     »Ich gebe nächsten Samstag zum Start des letzten Schuljahres eine Party, du musst auf jeden Fall dabei sein.«

     »Ja, klar bin ich dabei!« Nelli klatschte erfreut in die Hände.

     »Schön.« Mila betrachtete mich nachdenklich. »Du kannst von mir aus auch kommen.«

     Ich versuchte so auszusehen, als würde ich mich darüber freuen und antwortete möglichst unverbindlich: »Okay, danke.« Natürlich hatte ich nicht vor, zu dieser Party zu gehen.

     »Wir sehen uns dann«, rief Mila und stolzierte mit ihren Freundinnen im Schlepptau davon.

     Nelli war immer noch ganz hibbelig und begann auf ihrem Handy herumzutippen. Wahrscheinlich trug sie sich den Termin schon fett in ihrem Kalender ein oder berichtete irgendwem von der freudigen Nachricht. Oder beides. Als sie das Handy wieder weggesteckt hatte, liefen wir Richtung Ausgang.

     »Wow, ich freue mich schon. Du kommst doch auch?«

     »Mal sehen«, sagte ich nur, aber sie schien sowieso nicht zuzuhören.

     »Ich weiß schon genau, was ich anziehen werde, das wird super!« Wir waren auf dem Schulhof angekommen. »Kommst du mit zur Bahn?«

     »Nee, ich warte noch auf Sina.«

     Nelli verzog kurz das Gesicht. »Na gut. Sonntag steht?«, fragte sie noch, als sie sich schon zum Gehen wandte.

     »Ja, natürlich.«

     Sie winkte fröhlich und lief mit federnden Schritten davon. Ich lehnte mich an die Mauer und hielt nach Sina Ausschau. Das Wetter war noch immer traumhaft schön und ich blinzelte in die Sonne. Ich beobachtete die anderen Schüler, wie sie aus der Schule und über den Hof strömten. Es waren so viele vollkommen unterschiedliche Typen unter ihnen, und jeder freute sich auf das Wochenende. Wir alle versuchten die Schulzeit von Montag bis Freitag irgendwie zu überstehen, um dann endlich zwei freie Tage genießen zu können, an denen wir tun konnten, was wir wollten. Wäre es nicht stattdessen viel besser, jeden Tag genau das tun zu können, was man am liebsten macht? Was würde ich mit all der Zeit anfangen, wenn ich nicht verpflichtet wäre, den ganzen Tag in der Schule zu sitzen? Vielleicht wäre mir dann genauso langweilig. Vielleicht war die freie Zeit nur so viel wert, weil sie limitiert war?

     Anatoly kam auf seinem Skateboard auf mich zugerollt. Er wirkte wie immer leicht verlottert und seine dunklen Haare hingen ihm zerzaust ins Gesicht. Kurz vor mir flippte er sein Board in die Luft und fing es mit den Händen auf.

     »Hey«, sagte er.

     »Hi«, antwortete ich mit Sina im Chor, die gerade hinter mir aufgetaucht war.

     Ana sah überrascht zu ihr hinüber und ein Lächeln stahl sich auf sein schmales, hübsches Gesicht. »Ich will morgen zu meinem Geburtstag ins Pepper. Kommt ihr mit? Ihr seid natürlich auf ein Bier eingeladen.«

     Ich zuckte mit den Schultern und wollte grade absagen, aber Sina boxte mir gegen den Arm. »Natürlich kommen wir.«

     »Cool!« Ana stellte den rechten Fuß auf sein Board. »Da ist Luka. Ich bin noch mit ihm zum Skaten verabredet. Wir sehen uns dann morgen.« Und schon rollte er wieder davon.

 

Sina und ich machten uns auf den Weg zur Bahnhaltestelle. »Also, du kommst morgen mit?«, fragte sie, betonte die Worte aber mehr wie einen Befehl.

     »Neeeee, ich muss noch diesen Text für Deutsch schreiben und ich habe Nelli versprochen, dass ich ihr am Sonntag bei den Hausaufgaben helfe. Außerdem wollte ich morgen eigentlich gemütlich zu Hause bleiben.«

     Sina stöhnte. »Wieso hilfst du dieser Nelli schon wieder? Was hat die jemals für dich getan? Sie ist egoistisch und oberflächlich. Sollte die dir nicht vollkommen egal sein?«

     »Keine Ahnung.«

     »Wenn du der ollen Nelli hilfst, dann hilf auch deiner besten Freundin und komm mit zu dem Geburtstag. Zu Hause rumsitzen kannst du jeden Tag. Außerdem brauche ich deine Unterstützung. Du bist schuld daran, dass ich jetzt diesen Ana-Floh im Ohr habe, der mir die ganze Zeit komische Sachen zuflüstert.«

     Ich lachte. »Na gut, ich komme mit. Aber ich bleibe nicht so lange.«

     »Na also, auf dich kann ich mich verlassen.« Sina lächelte zufrieden und legte mir einen Arm um die Schultern.

     Wir überquerten eine Kreuzung und liefen durch eine kleine Fußgängerzone, die für ihre Boutiquen, Cafés und Restaurants bekannt war. Hier war es viel ruhiger, es gab einige Fachwerkhäuser und der Boden war mit Kopfsteinpflaster bedeckt. Viele Menschen saßen an den Tischen, die vor den Schaufenstern standen, genossen die Sonne und aßen ein Eis oder tranken ein kühles Getränk.

     Neben einem kleinen Herrenausstatter saß ein Mann mit seinem Hund auf einer Decke. Ich nahm eine Münze aus einer Tasche meiner Latzhose und legte sie in die Schale, die er vor sich stehen hatte.

     »Danke«, sagte er und ich lächelte ihm zu. Dann gingen wir weiter. Inzwischen kannte ich ihn. Ich hatte mich ein paarmal mit ihm unterhalten und ihm schon oft nach der Schule Geld gegeben, denn ich sammelte für solche Zwecke immer ein paar Münzen in einer meiner Taschen. Ab und an brachte ich dem Hund auch ein Leckerchen mit.

     Als wir uns ein Stück entfernt hatten, schüttelte Sina theatralisch den Kopf. »Weißt du, wenn alle Menschen auf der Welt so wären wie du, wären sicher alle glücklich und zufrieden, es gäbe keinen Krieg und keine Armut, wahrscheinlich nicht mal Krankheit und Tod.«

     Ich verschränkte die Arme. »Du machst dich mal wieder über mich lustig.«

     »Nein, mache ich nicht.« Sie lächelte, zwinkerte mir verschwörerisch zu und schritt leichtfüßig voran. »Es sollte wirklich viel mehr Menschen wie dich geben. Dann wäre die Welt ein besserer Ort.«

     Sie schien ihre Worte ernst zu meinen, und ich freute mich über das Kompliment. Ich beschleunigte meine Schritte und schloss wieder zu ihr auf.

     »Ich fand deinen Vortrag sehr gut«, sagte ich zu ihr.

     »Danke.«

     »Er hat mich zum Nachdenken angeregt.«

     »Inwiefern?«

     »Darüber, dass ich noch keine Ahnung habe, was ich mit meinem Leben anfangen soll.«

     »Ja, das kann ich verstehen. Ich finde diese Entscheidung auch echt schwierig. Es gibt so vieles, das mich interessiert.«

     Wir verließen die Fußgängerzone, blieben an einer Ampel stehen und warteten auf grünes Licht.

     »Vielleicht werde ich Politikerin«, sagte Sina kurz darauf.

     »Finde ich eine gute Idee. Das passt zu dir.«

     »Denke ich auch.« Sie sah mich aufmunternd an, als wir die Straße überquerten. »Und du wirst sicher auch noch das Richtige für dich finden. Du hast gute Noten. Deine Eltern haben Geld. Du kannst alles machen, was du willst. Andere Menschen haben es da schwieriger.«

     Wir blieben an der Haltestelle stehen. Der Wartebereich war durch einen Zaun von der Straße getrennt und Sina setzte sich im Schneidersitz auf den Boden.

     »Es klingt beinahe vorwurfsvoll, wie du das sagst.«

     »Nein, das sind nur die Fakten. Ist nicht böse gemeint.«

     »All das macht die Entscheidung aber auch nicht einfacher.«

     »Das stimmt.« Sina nahm ihre Kopfhörer aus der Tasche.

     Ich wandte mich der Bahn zu, die gerade einfuhr. »Bis morgen.«

     »Bis morgen«, sagte Sina und winkte mir noch zu, ehe ich in die Straßenbahn einstieg.

 

Als ich zu Hause angekommen war und die Tür aufgeschlossen hatte, hängte ich meinen Schlüssel ans Schlüsselbrett, zog meine Schuhe auf der Fußmatte aus und stellte sie auf das Schuhregal. Ich horchte für einen Moment in die Stille hinein, dann schloss ich die Tür hinter mir. Die Wohnung wirkte leer. Meine Mutter war aufgrund ihrer Arbeit als Dokumentarfilmerin häufig im Ausland unterwegs und oft wochenlang nicht da. Deshalb lebte ich die meiste Zeit allein mit meinem Vater, einem bekannten Krimiautor, in unserer großen Altbauwohnung. Die Decken waren hoch und der Boden fast überall mit dunklem Parkett ausgelegt. Beinahe in jedem Raum stand ein Bücherregal, das die Menge an Büchern, die es tragen musste, kaum noch zu halten vermochte. Selbstverständlich hatte ich so gut wie alle davon bereits gelesen. Die meisten  waren Romane, vor allem Krimis und Thriller, aber es befand sich auch eine Menge Fachliteratur darunter. Immer, wenn mein Vater für einen neuen Roman recherchierte, kaufte er haufenweise Bücher zu allen Themen, mit denen sich seine Geschichte auch nur ansatzweise beschäftigte. Natürlich nutzte er für seine Nachforschungen manchmal auch das Internet, aber Bücher waren stets seine erste Wahl.

     Momentan beschäftigte er sich mit der Ausarbeitung einer neuen Reihe und war häufig spazieren, was ihm half, Inspiration zu finden. Oder er saß, umgeben von Notizzetteln, Bildern und Büchern, an seinem Schreibtisch, um zu planen, Figuren zu entwerfen und erste Szenen zu schreiben.

     Ich durchquerte den Flur und warf einen Blick in sein Arbeitszimmer, um herauszufinden, ob er zu Hause war. Die Tür war einen Spalt breit geöffnet, er saß auf seinem Bürostuhl, sein Kopf war nach hinten auf die Lehne gesackt und er war offensichtlich eingeschlafen. Die Vorhänge waren zugezogen und das Licht des Laptopbildschirms schien ihm schwach ins Gesicht. Auf dem Schreibtisch, der Fensterbank und dem Boden lagen überall aufgeschlagene Bücher herum. Außerdem entdeckte ich mehrere halbvolle Kaffeetassen sowie ein angebissenes Sandwich, das seine beste Zeit zweifellos hinter sich hatte.

     Schmunzelnd schloss ich möglichst leise die Tür und ging in die Küche. Dort bereitete ich mir einen schlichten Salat zu, goss mir Eistee in ein Glas und verkrümelte mich anschließend in mein Zimmer. Leider hatte ich momentan nur diesen seltsamen Liebesroman zur Hand, aber selbst der war besser als nichts. Also setzte ich mich mit Verpflegung und Buch gemütlich in meinen Lesesessel und beschloss, der Geschichte noch eine Chance zu geben.

     Erstaunlicherweise verging die Zeit wie im Flug und ungefähr zwei Stunden später erschien mein Vater im Türrahmen. Seine große Gestalt mit den breiten Schultern schien kaum hindurchzupassen. Er trug Jeans, ein weißes T-Shirt und war, wie so oft, barfuß unterwegs. Sein dunkles Haar wirkte ein wenig strubbelig und er hatte dicke Ringe unter den Augen, aber er strahlte bis über beide Ohren.

     »Guten Abend«, sagte er.

     »Hi, wie geht’s?«

     »Sehr gut. Ich komme mit der Geschichte gut voran.«

     »Super!«, antwortete ich und freute mich darüber.

     »Und wie war dein Tag?«, fragte er mich, aber dann fiel sein Blick auf mein Buch sowie auf die umgeknickten Ecken, die mir als Lesezeichen dienten und sein Gesicht verfinsterte sich.

     »Emma, was soll das? Ich habe dir doch schon so viele schöne Lesezeichen geschenkt. Wieso benutzt du sie nicht?«

     Ich grinste und zuckte mit den Schultern.

     »Du bist unmöglich.« Er verließ das Zimmer und rief mir vom Flur aus zu: »Ich koche jetzt Spaghetti. Du bekommst aber nur was ab, wenn ich gleich ein Lesezeichen in deinem Buch sehe.«

     Ich kicherte und knickte die aktuelle Seite in dem Buch um, ehe ich es zuklappte und in die Küche lief. Dort legte ich es auf den Tisch und nahm eine Zwiebel sowie ein Schneidebrett und ein Messer aus dem Schrank. Mein Vater verabscheute es, Zwiebeln zu schneiden, deshalb übernahm ich diesen Arbeitsschritt meistens für ihn. Er war gerade dabei, die Möhren für eine Gemüsebolognese zu schälen und lächelte mir zu, als ich mich neben ihn stellte.

     »Danke für die Hilfe«, sagte er.

     »Immer gern.« Ich schälte die Haut von der Zwiebel und halbierte sie.

     »Dir ist aber bewusst, dass du von dem Essen trotzdem nichts abbekommst.« Er deutete mit dem Sparschäler auf das Buch.

     »Ja, das ist mir bewusst«, sagte ich scherzend.

     »Gut.« Während er die Möhren in kleine Stücke schnitt, warf er einen Blick auf das Cover. »Du hast also einen von diesen schrecklichen Liebesromanen deiner Mutter hervorgekramt.«

     »Ja.«

     »Ich habe nie verstanden, wieso sie diese Bücher so gerne liest. Ich finde, die meisten dieser Geschichten suggerieren, dass es im Leben um nichts anderes, als den perfekten Partner geht.«

     »Tatsächlich habe ich heute über etwas Ähnliches nachgedacht«, sagte ich.

     »Ach ja?«

     Die Zwiebel brannte in meinen Augen, als ich begann, sie in kleine Würfel zu schneiden. »Ja. Ich bin mir immer noch nicht sicher, was ich beruflich machen will«, sagte ich schniefend.

     »Kein Grund, gleich in Tränen auszubrechen.« Er lachte.

     Ich warf ihm einen bösen Blick zu. »Nächstes Mal schneidest du die Zwiebeln.«

     »Auf keinen Fall!« Er lachte wieder. »Jedenfalls ist das wirklich eine schwierige Entscheidung, der du dich da stellen musst. Hast du mal deine Freunde gefragt, wie sie damit umgehen?«

     »Noch nicht alle. Sina scheint sich aber schon ziemlich sicher zu sein.«

     »Ja, das sieht ihr ähnlich.« Mein Vater schob die klein geschnittenen Möhren auf dem Brett zusammen und gab sie anschließend mit etwas Öl in einen großen Topf. Ich schüttete die Zwiebelstückchen dazu. »Leider weiß ich gerade auch nicht so recht, was ich dir diesbezüglich raten soll, Emma. Ich werde mir dazu aber mal ein paar Gedanken machen.«

     »Okay«, sagte ich und setzte mich an den Küchentisch, während mein Vater die Tomaten in Stücke schnitt und Nudelwasser aufsetzte.

     Ich drehte nachdenklich das Buch in meinen Händen und überlegte, wieso ich inzwischen doch so viel Spaß daran hatte, es zu lesen, obwohl mein Vater mit seiner abwertenden Bemerkung über die Darstellung von Lebensglück natürlich recht hatte. »Ich glaube, manchmal ist es doch ganz schön, sich in eine Welt zu flüchten, in der alles so einfach und gradlinig ist, wie in einer vorhersehbaren Geschichte.«

     »Da das ist wahr. Wenn ich ehrlich bin, ist es mit meinen Krimis ja eigentlich auch nicht anders. Da klärt sich am Ende auch immer alles auf. Der Mörder wird geschnappt und die Welt scheint wieder in geordneten Bahnen zu verlaufen.«

     »Stimmt«, sagte ich und sog den köstlichen Duft der gedünsteten Zwiebeln ein. »Wovon handelt dein neuer Roman?”

     »Er spielt in einem Forschungslabor. Aber viel mehr kann ich jetzt nicht verraten. Die Story und die Charaktere müssen noch ein bisschen reifen.«

     »Na gut. Aber sobald du etwas geschrieben hast, möchte ich es lesen.«

     Er rührte in dem riesigen Spaghettitopf und fischte eine Nudel aus dem sprudelnden Wasser. »Natürlich. Du bist die erste, die mein Manuskript zu sehen bekommt.« Er reichte mir den Kochlöffel mit der Spaghetto darauf, ich nahm sie mit spitzen Fingern und schob sie mir schnell in den Mund, weil sie so heiß war.

     »Muss noch ein paar Minuten kochen«, sagte ich fachmännisch, als ich auf dem harten Kern der Nudel herumkaute.

     »Okay.« Er zwinkerte mir zu und fuhr mit der Zubereitung unseres Abendessens fort.

     Ich räumte das Buch zur Seite, deckte den Tisch und schaltete unseren Lieblingsradiosender ein.

     So verbrachten wir einen gemütlichen Abend. Später half ich noch beim Aufräumen und kuschelte mich anschließend mit dem Buch in mein Bett.