Welcome to paradise
7:30 Uhr.
»Para-para-paradise, para-para-paradise.«
Geschocktes Augenöffnen. Blick auf den Wecker. War es ernsthaft schon wieder so spät? – Ja, war es. Lilly musste noch einmal eingeschlafen sein. Zum Glück stellte sie sich immer einen zweiten Wecker. Ihr Lieblingssong der Band Coldplay war schon vergessen, als sie sich mit einer Bewegung aus dem Bett wuchtete und dabei die plüschig-kuscheligen Hausschuhe mit dem Tigermuster überzog. Nicht nur kitschig, sondern auch absolut notwendig. Der Boden war nämlich meist unangenehm kalt, Fliesen; das Zimmer fast so kühl wie draußen. Heizkosten sparen war angesagt. Außerdem zog es sowieso durch die Fenster. Dämmung? – Ein Fremdwort in einer so alten Wohnung.
Was sollte sie machen? Mehr als die kleine Zweizimmerwohnung konnte sie sich hier in Berlin Neukölln nicht leisten. Genauso gut hätte es eine Einzimmerwohnung sein können – zugegeben. Viel günstiger waren die allerdings meist auch nicht. Sie hatte schon öfter die Immobilienangebote durchforstet. Lilly zahlte eine äußerst moderate Miete, denn ihr Vermieter schien schon einige Zeit vergessen zu haben, dass man Mietpreise auch aktualisieren konnte. Ein Glück. So günstig es auch war, ihr Wohnzimmer blieb trotzdem meist unbewohnt.
Wenn sie spätabends von ihrem Job in der Werbeagentur nach Hause kam, hatte sie zwar in der Regel große Lust, sich mit einem guten Buch, der Katze auf dem Schoß und einem wohlig warm würzigen Tee in ihren Massagesessel, den sie liebevoll Kompostiersessel getauft hatte, zu kuscheln … doch dafür reichte ihre Kraft meistens nicht mehr aus. Sie war in der Regel einfach zu erschöpft und schaffte es nur noch unter die Dusche und ins Bett.
Sie hatte den Sessel bei der Hausauflösung ihrer verstorbenen Großeltern vor dem Container gerettet. Er war uralt und hatte deutliche Gebrauchsspuren. Die Massagefunktion tat ihren Dienst glücklicherweise noch und seine Sitzfläche war wunderbar bequem durchgesessen. Die Sitzkuhle schmiegte sich optimal an ihren runden Po, den ihr Exfreund so gerne gemocht hatte. Aktuell war der Sessel, wie es schien, der einzige Fan ihrer weiblichen Rundungen. Na ja, das stimmte nicht ganz. Ihr Kater mochte sich sehr gerne an sie schmusen. Kompostiersessel hieß das im hell eingerichteten Wohnzimmer stehende Sitzmöbel nicht, weil es darin so deplatziert wirkte, mit seiner dunklen, zerkratzten Lederoberfläche, sondern deshalb, weil Lilly dasitzen und den Gedanken nachhängen, mit Ideen schwanger gehen, gerne liebevoll als »kompostieren« bezeichnete. Beim Sinnieren und Eindrücke sacken lassen, wurden in ihrem Inneren Nährstoffe freigesetzt, die ihre Kreativität unbedingt zum Leben brauchte. Da war sie sich ganz sicher.
Es war eine lächerlich romantische Idee gewesen mit dem Sessel, unterbrach sie selbst ihre Schwärmerei. Offensichtlich, saß sie doch kaum darin. Das Leben lief eben nicht immer so einfach, das hatte schon ihre Mutter ihr stets eingebläut. Anstrengung und Disziplin führten zum Erfolg, nicht Tagträumen und in gemütlichen Sesseln faulenzen. Genau deshalb war sie aus ihrem Heimatdorf fortgegangen, raus in die große Welt, weil ihre Mutter sie verrückt machte mit ihren Befürchtungen, Lilly könnte auf der Strecke bleiben vor lauter verklärten Träumereien.
Oh je! Nun fiel ihr siedend heiß wieder ein, wie weit fortgeschritten die Zeit schon war. Jetzt aber schnell. Noch kurz die Katze streicheln und füttern. Kaffee. Und los. Das eigene Frühstück musste warten oder ausfallen, wen kümmerte das schon. Ein neuer Tag voller kreativer Ergüsse – hoffentlich – wartete darauf, gelebt zu werden.
Lilly hieß eigentlich Lilith, doch so nannte sie außer ihrer besagten, zu Dramatisierung neigenden Mutter kaum jemand. Gut so, denn wer wollte schon einen so dämonischen Namen haben? Hatten ihre Eltern nicht gewusst, dass Lilith laut Mythologie ein weiblicher Dämon war? Diejenige, die Schuld war, dass Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben worden waren. War ihnen das nicht aufgefallen bei der Namensrecherche? Klingt doch total cool, haben sie sich vermutlich gedacht. So musste es gewesen sein.
Lillys ließ ihre Gedanken schweifen. Sie sah aus dem Fenster; die geschäftigen Straßen Berlins rauschten nur so an ihr vorbei, während sie mit der U-Bahn Richtung Arbeit fuhr. Wie jeden Morgen um diese Zeit waren die öffentlichen Verkehrsmittel die Hölle. Alle schienen es unheimlich eilig zu haben und unglaublich wichtige Dinge erledigen zu müssen – als ob. Wussten diese Leute denn nicht, dass sie die Herrscherin des Bösen war, zumindest dem Namen nach? Haltet Abstand, ihr Verrückten. Man konnte schon zur Menschenhasserin werden hier drin. Vor allem, wenn man spät dran war. Jeden Morgen dasselbe Theater. Willkommen in der Großstadt.
8:56 Uhr. Haltestelle Kottbusser Tor. Hier, in Berlin Kreuzberg, lag das Gebäude, in dem sich ihre Arbeitsstelle befand: eine Werbeagentur, super-hip, namens »Eden«. Siebter Stock, den Gang entlang, dritte Tür links. Das hatte sie sich damals vor dem Bewerbungsgespräch immer vorgesagt, als sie − wie jetzt − im Aufzug gewartet hatte, um oben anzukommen. Es war ihre erste Stelle nach dem Designstudium gewesen, wie ein absoluter Anfänger war sie sich vorgekommen. So ging es ihr oft heute noch.
Ping. Tür auf. »Hey, guten Morgen.«
Und noch bevor sie ausatmen konnte, traf sie Adam im Flur Richtung Agentur. Seinen Namen sprach man Englisch aus. Ob er eigentlich wie der Adam aus der deutschsprachigen Bibel hieß und nur hipp sein wollte, oder seine Eltern ihm wirklich einen englischen Namen gegeben hatten, wusste sie nicht.
»Heute auch später dran.«
Es war eher eine Bemerkung, denn eine Frage. War Lilly doch generell eher knapp unterwegs mit ihrem Zeitmanagement. Noch so etwas, das sie gerne ändern wollte.
»Sieht so aus.« Auf Small Talk mit diesem Angeber hatte sie so was von keine Lust. Er bildete sich so viel ein auf seine Erfahrungen, die er in der letzten Agentur gesammelt hatte, bei der er angestellt gewesen war. Als hätte er Lilith einiges voraus, als könne sie noch viel von ihm lernen. Blablabla. Sie konnte es nicht mehr hören. Lilith kannte seine halbe Lebensgeschichte. Adam war ein sehr sendungsbewusster Zeitgenosse, sollte doch niemand verpassen, wie unglaublich erfolgreich er war. Sein Apartment war superschick, teilfinanziert von seiner fürsorglichen Architektenmutter. Diesen Teil der Geschichte überging er in der Regel recht schnell und betonte, dass er diese Unterstützung gar nicht nötig gehabt hatte für den Neustart hier in Berlin, seine Mutter allerdings einfach ein Gutmensch sei, was diese oft bares Geld kostete, so Adam. Er selbst sei zielstrebig genug, nichts aus Mitgefühl für andere Menschen umsonst oder günstiger zu machen, geschweige denn, einen festen Prozentsatz seiner Einnahmen an wohltätige Organisationen zu spenden, wie sein Erzeuger es tat. Auf die Idee, dass seine Mutter möglicherweise nicht etwa unüberlegt, sondern aus der Gewissheit heraus handelte, es sei genug für sie und ihre Familie inklusive verzogenem Sohn übrig, kam ihrem Kontrahenten wohl nicht in den Sinn. Adam schien wenig von Dankbarkeit und Demut zu wissen. Er beschwerte sich regelmäßig über seine Nachbarn, die laut und lebhaft Musik hörten, was seiner Kreativität gar nicht gefalle und ihm außerdem regelmäßig seine Dates verderbe, da könne auch die Aussicht von der eigenen Dachterrasse nichts mehr retten. Lilly empfand kein Mitleid.
»Mal sehen, was der CEO heute für uns hat«, unterbrach Adam ihre Gedanken in seiner gewohnt überschwänglichen und aufdringlichen Art.
»Ja. Mal sehen.«
Hinsetzen. Endlich am Schreibtisch angekommen.
9:12 Uhr. Adam hatte den Platz genau gegenüber von ihr. Ein Glück, machte er sich direkt daran, seinen Rechner hochzufahren und die Kaffeemaschine mit seiner Anwesenheit zu beglücken. So hatte Lilly Zeit, im Raum anzukommen. Das Büro gefiel ihr richtig gut. Alles war offen gestaltet, modern, freigeistig, wie es sich für eine junge Werbeagentur gehörte, zumindest in ihrer Welt. Weiße Wände waren vollgepinnt mit Moodboards und Skizzen, an ausgewählten Stellen standen großzügige grüne Pflanzen, schließlich wollte man auch beim Interieur an das namensgebende Paradies erinnern. Studien waren zudem der Meinung, dass Pflanzen gut fürs Raumklima seien, hatte sie irgendwo gelesen. Am besten gefiel ihr allerdings die Schaukel im Pausenraum. Sie hing von der Decke. Einfach so. Und es gab sogar genug Platz, um zumindest ein bisschen hin und her zu schaukeln. Sie hatte zwar Höhenangst, doch diese Schaukel war okay. Genau der richtige Ort, um in einem stumpfen Moment auf den Kuss der Muse zu warten – Nährstoffe freizusetzen. Auch hier an ihrem Arbeitsplatz verbrachte sie wenig Zeit am Ort der Ruhe. Ein Muster, das sich durchzuziehen schien.
»Heute schlecht aus dem Bett gekommen, Frau Neumann?« Eine Männerhand, einer Pranke nicht unähnlich, stützte sich auf den ihr zugeteilten Mahagoni Schreibtisch. Oh nein, der CEO. »Ich bin hier der Einzige, der zu spät kommen darf. Ha, ha«, sagte er halb ernst und halb im Scherz. Sie nickte nur knapp, da kam Adam mit seinem Kaffee um die Ecke. »Guten Morgen, Herr Gottlieb. Heute steht eine große Aufgabe für Sie ins Haus. Halb elf im Besprechungszimmer. Wir haben einen neuen Kunden«, sagte der CEO und verschwand in Richtung seines Büros.