Astrani war ganz blass geworden. „Warum übernehmen wir diese gefährliche Aufgabe überhaupt?“, stieß sie hervor.
„Weil niemand anderer sie tun kann“, antwortete Sanktoria leise. „Wir riskieren nicht andauernd unser Leben. Bitte, lass dich davon nicht abschrecken. Dieses Erlebnis war das einzige in all der Zeit, bei dem ich wirklich in Gefahr war.“
„Einmal tot reicht doch für ein ganzes Leben!“
Solange Lumes lebte, wollte er mehr in dieser Welt erleben und nicht die halbe Lebenszeit im Totenreich verbringen. Dort würde er noch lange genug weilen.
Er konnte lediglich hoffen, dass die Göttin ihm diese Gedanken nicht übel nahm, sonst wäre es mit ihrer Hilfe nicht weit her. Andererseits, wer wusste denn, ob die schwarzen Magier nicht selbst einen Handel mit der unberechenbaren Göttin ausgemacht hatten und er ihnen damit in die Hände spielen würde? Das konnte er nur herausfinden, wenn er das Risiko einging, Ereschkidal um Unterstützung zu bitten, und er wollte sich ein wenig Bedenkzeit ausbedingen, bevor er sich zu einer Entscheidung durchrang.
Kapitel 2 – Eine Nachricht und eine unangenehme Aufgabe
Lord Sophistes Magnus lief ruhelos in seinem Studierzimmer auf und ab und fuhr sich immer wieder durch seine grauen Haare, die dadurch wie die Borsten eines Stachelschweins abstanden. Der Erzmagier von Del Quasir wusste, dass Meinhard Lumes im Salon wartete. Eigentlich hätte er den Zauberer schon längst hereinbitten sollen, aber er konnte sich nicht recht überwinden. Warum er es nicht über sich brachte, Lumes anzuhören, konnte er sich nicht erklären. Dass er schlechte Nachrichten erwartete, war zwar unangenehm, und dass er eigentlich lieber in einer wissenschaftlichen Abhandlung über das Heilen von Kindern gelesen hätte, war ein Argument, aber all das rechtfertigte noch nicht sein Zögern. Er unterbrach seine Wanderung und setzte sich hinter den Schreibtisch, dessen Platte aus rötlichem Holz von gedrechselten Beinen getragen wurde. Mit Schwung legte er seine Füße, die in Fellpantoffeln steckten, auf die Ecke des Tisches. Auch wenn er noch länger grübelte, würde er zu keiner anderen Einsicht kommen: Er musste sich endlich eingestehen, dass er seinen Untergebenen nicht ausstehen konnte. Es gehörte nicht zu seiner Pflicht, alle seine Zauberer zu mögen. Das war ihm bewusst. Aber eigentlich sollte er nach den sechzig lehrreichen Jahren seines Lebens in der Lage sein, sie zu respektieren. Nicht immer gelang ihm das. Dieser Zauberer strahlte eine permanente Unzufriedenheit aus und hielt mit seiner Meinung auch nicht hinter dem Berg. Wenn Sophistes ehrlich zu sich war, löste die ständige Verdrossenheit des Mannes ein Gefühl der Unzulänglichkeit bei ihm aus, dem er sich nicht stellen wollte.
Es verwunderte ihn zwar, dass keiner der anderen Zauberer Interesse an sinnlichen Liebesnächten mit jungen Grenzgängerinnen hatte, die als Einweihungsritual dienten, und offensichtlich auch nicht an den Söhnen mit magischer Begabung, die unweigerlich daraus hervorgingen. Aber wenn keiner an der Arbeit mit den Anwärterinnen mitwirken wollte, konnte er leider auch nichts an Lumes’ Lage ändern. Er konnte schließlich keinen Magier zwingen, große Teile des Lebens in der Unterwelt zu verbringen. Also hatte er keine andere Möglichkeit gesehen, seine Anerkennung für die Leistungen des Zauberers auszudrücken, als Lumes‘ Entlohnung deutlich anzuheben. Und das hatte er getan, obwohl er sich dafür vor dem König hatte rechtfertigen müssen. Wenn er nur daran dachte, dass Meinhard Lumes womöglich seine Stellung aufkündigen würde, wurde ihm ganz flau. Dann müsste er sich nicht nur den Vorwürfen des Königs, sondern auch noch denen der Göttin der Unterwelt aussetzen. Ohne einen Zauberer, der die Einweihungsrituale vollzog, würde die Zahl der Grenzgängerinnen noch mehr abnehmen, und sobald Seelen im Zwischenreich verloren gingen, würde Ereschkidal, von sich hören lassen. Dessen war er sich sicher.
Keiner von den glorreichen Verfassern des Kodex hatte auch nur im Entferntesten daran gedacht, dass es einmal keinen Magier mehr geben könnte, der bereit war, die Ausbildung der Grenzgängerinnen zu übernehmen. Und er musste sich nun mit diesem Problem herumschlagen. Warum hatte er sich nur von seiner Frau überreden lassen, das Amt des Erzmagiers anzunehmen? Ohne ihre klugen Ratschläge fühlte er sich hilflos und verloren. Die Trauer legte sich wie eine vertraute Decke über ihn, wenn er an Rissa dachte, und lähmte seine Gedanken. Er sank in seinem Sessel in sich zusammen und schloss die Augen. Wie angenehm waren die letzten Monate vergangen, in denen sich niemand hilfesuchend an ihn gewandt hatte. Die Zeit der Rücksichtnahme war offensichtlich vorbei.
Sophistes ließ seinen Blick noch einmal durch sein Arbeitszimmer schweifen. Bis zur Decke erhoben sich Regale aus rötlich glänzendem Mastringaholz, gefüllt mit kostbaren Folianten. Wie gern würde er jetzt lesen, doch es hatte keinen Sinn, das Unvermeidliche noch weiter hinauszuschieben. Mit einem Seufzer erhob sich der alte Magier von dem gepolsterten Armsessel und nahm seine unverschämt pompöse Audienzrobe vom Haken des Kleiderständers. Sophistes mochte sein Alltagsgewand, das viel unscheinbarer daherkam, weitaus lieber, aber manchmal musste man zeigen, wer man war, und dies war so ein Augenblick. Missmutig stülpte er sich die kunstvoll mit Goldstickerei verzierte Amtstracht über den Kopf, strich sie glatt und öffnete die Tür. »Komm herein, Meinhard.«
Der Angesprochene erhob sich eilig und trat durch die Tür, die ihm der Erzmagier mit gezwungener Freundlichkeit offenhielt. Die fettigen, langen Haare hingen Lumes ins unrasierte Gesicht und auch die Robe, die um seinen mageren Körper schlotterte, war nicht frisch.
Sophistes musste sich beherrschen, um nicht angewidert die Nase zu rümpfen. In den beiden Gewändern, die er trug, begann er bereits zu schwitzen, was seine Laune nicht verbesserte. »Was hat dich so sehr aufgestört, dass du nicht einmal die Zeit hattest, um dich zu waschen, bevor du zu mir geeilt bist?«
Mit einem nachdrücklichen Knall schloss er die Tür und ging hinter den Schreibtisch. Sein missbilligender Blick ruhte fest auf seinem Untergebenen, der wenigstens den Anstand hatte, verlegen zu wirken.
Doch sehr schien diesen der Vorwurf nicht zu belasten, denn er entgegnete säuerlich: »Entschuldigt vielmals, aber ich war viele Tage lang unterwegs zu Eurem Schloss. Wenn Ihr mir warmes Wasser bringen lasst, werde ich alles tun, um Euren gehobenen Ansprüchen zu genügen.«
Lumes erspähte den gemütlichen Ohrensessel in der Ecke, in dem der Erzmagier zu lesen pflegte, aber Sophistes rief ihn mit einem angestrengten Räuspern zur Ordnung, als er darauf zusteuerte. Offensichtlich verstand der Zauberer sofort, warf noch einen begehrlichen Blick auf das bequeme Sitzmöbel und kehrte zum Schreibtisch zurück.
»Ach, die Bäche auf meinem Anwesen sind also ausgetrocknet?« Sophistes konnte sich die Ironie nicht verkneifen und bereute es sofort. Na großartig, dachte er, wenn ich einen Preis in Unfreundlichkeit gewinnen wollte, dann stünde ich jetzt ganz weit oben auf der Liste. Auf diese Art konnte er einen unwilligen Angestellten sicher nicht bei Laune halten.
»Zugefroren trifft es eher. Habt Ihr Euch schon einmal bei diesen Temperaturen im Freien gewaschen?« Als Meinhard Lumes den Kopf hob, konnte der Erzmagier ein wütendes Funkeln in den wasserblauen Augen sehen. »Vielleicht habt Ihr die Güte, mich anzuhören, bevor Ihr mich verspottet.«
Die nähere Umgebung der Burg wurde durch uralte Bannzauber geschützt, die verhinderten, dass eine andere Magie als die des jeweiligen Besitzers funktionierte. Lumes hatte sich nicht warm halten können. Sophistes seufzte. »Vermutlich ist dein Zorn berechtigt. Trag bitte dein Anliegen vor.«
»Es gibt immer weniger Grenzgängerinnen und deshalb werden auch immer weniger Zauberer geboren. Außerdem beklagen sich die verbliebenen Grenzgängerinnen über zu viel Arbeit. Sie meinen, das ginge langsam über ihre Kräfte, und sie seien oft länger im Totenreich unterwegs, als es ihren Körpern gut tue. Der Palast der Nebel steht bereits zur Hälfte leer.« Trotzig sah Meinhard dem Erzmagier in die stahlgrauen Augen. »Ich denke, das ist eine wichtige Nachricht.«
Unangebrachte Erleichterung durchströmte ihn. Lumes war nicht gekommen, um sein Amt niederzulegen oder eine Unterstützung zu fordern, die er ihm nicht gewähren konnte. »Diese Tatsachen sind mir bekannt. Meine Eulen haben mir davon berichtet. Was, denkst du, könnte ich dagegen unternehmen?«
»Woher soll ich das wissen? Ihr seid der Erzmagier.« Lumes schob eine schwarze Strähne hinter sein Ohr.
»Ich habe weniger Einfluss auf die Kaste der Grenzgängerinnen als du glaubst. Die meisten entscheiden sich, nur zwei Kinder zu gebären – einen Zauberer und eine Nachfolgerin. Und wer kann es ihnen verübeln, nachdem gerade bei ihrer Arbeit eine Geburt so unglaublich gefährlich sein kann?« Sophistes hob eine buschige, silbergraue Augenbraue.
»Das mag ja sein, aber es gab immer genug davon. Es muss einen Grund haben, warum die Zahl so erschreckend abnimmt«, beharrte der Zauberer.
»Das ist richtig. Allerdings habe ich von keiner Seuche gehört, die viele Todesopfer unter ihnen gefordert haben könnte. Auch die Yeddin verhalten sich zurzeit ruhig. Mir ist auf jeden Fall kein Überfall in der Ebene zu Ohren gekommen.«
»Vielleicht werden uns nicht mehr alle Geburten angezeigt?«, wandte Lumes ein.
»Jede Grenzgängerin weiß, dass sie die Kraft an all ihre Töchter weitergibt. Das ist Inhalt der Ausbildung. Oder vielleicht nicht?« Er forschte im Gesicht von Lumes nach einem Anflug von schlechtem Gewissen, aber er wurde enttäuscht.
»Natürlich«, schnaubte der Zauberer empört. »Ich kläre jede darüber auf. Allerdings weiß ich nicht, wie die Sache in den anderen Ländern gehandhabt wird.«
»Vielleicht sollten wir die kleinen Magier zu einem späteren Zeitpunkt in den Palast bitten.« Nachdenklich zupfte Sophistes an seinem grauen Spitzbart. »Keine Mutter möchte ihr Kind schon in jungen Jahren abgeben. Es könnte sein, dass die Grenzgängerinnen ihre Töchter vor diesem Schicksal bewahren möchten.«
»Bei jedem entwickelt sich die Gabe zu einem anderen Zeitpunkt. Wenn sie schon ausgebrochen ist, ist sie viel schwerer zu beherrschen. Zauberer müssen schon in jungen Jahren Disziplin lernen«, widersprach Lumes energisch.
Sophistes‘ Blick glitt resigniert über die schmuddelige Gestalt des Zauberers und er fragte sich, wie sehr er wohl in dieser Hinsicht als Lehrmeister versagt haben musste. »Du wirst die Grenzgängerinnen danach fragen, wenn sie ihre Töchter in den Palast bringen. Und die jüngeren, die noch keinen Mann erwählt haben, wirst du besuchen und dich nach ihrer Meinung erkundigen«, beschied er Lumes. »Deinen Bericht kannst du durchaus mit einer Eule schicken.«
»Warum gerade ich?«, begehrte der Zauberer auf. »Ich glaube nicht, dass ich die Befugnis habe, um Grenzgängerinnen zu verhören. Fällt das nicht in Euren Verantwortungsbereich, Mylord? Ich bin völlig ungeeignet für so eine Aufgabe. Außerdem muss ich bald wieder eine Anfängerin ausbilden.«
»Die Frauen bringen ihre Töchter zu dir. Es ist für dich also ein Leichtes, dich mit ihnen zu unterhalten. Und was meinst du eigentlich mit Verhör? Ich sprach von einer Befragung!« Was hatte dieser Mann nur an sich? Er machte den Mund auf und schon verspürte Sophistes eine ganz unvernünftige Wut, die er kaum in den Griff bekam.
»Befragung – jawohl«, lenkte Lumes missmutig ein. »Ich werde mich selbstverständlich darum kümmern, wenn Ihr es so wünscht.«
»Ich wünsche es.« Sophistes stand auf, ging zur Tür und öffnete sie. Kurz dachte er darüber nach, Lumes eine Übernachtung zu offerieren, aber dann verwarf er den Gedanken wieder. Er wollte im Moment niemanden um sich haben und sei es auch nur für eine Nacht. Nicht auszudenken, wenn er dieses mürrische Gesicht auch noch am Frühstückstisch ertragen müsste. Lumes verstand sofort, dass die Audienz beendet war, und ging an seinem Vorgesetzten vorbei, ohne ihn noch einmal anzusehen.